Codex Aenigmarum
In den Jahren der Dunladanischen Klassik war es eine beliebte Beschäftigung des Adels, in geselligen Runden den Gästen kleine Rätsel und Denkaufgaben zu stellen, um so die eigene Intelligenz zu demonstrieren. Aus der Gewohnheit entwickelte sich alsbald ein Brauch, und so gab es einige Adelige, welche diese Rätsel aufschrieben und somit für die Nachwelt überlieferten. Das folgende Buch geht noch weiter und scheint, eine Mischung aus Tagebucheintrag und Nachschlagewerk zu sein.
Einige Zeit nach dem Essen erhob sich der Hausherr, ein gar korpulenter Mann, um mit jovialer Handbewegung den Gästen den Weg in das Musikzimmer zu weisen. So machten wir uns auf, ihm zu folgen und den Pagen freie Hand beim Abräumen der Tafel zu lassen. Das Musikzimmer war ein geschmackvoll eingerichteter, hoher Raum mit dunkler Vertäfelung aus Kirschholz; lederüberzogene Sessel gruppierten sich auf einer Seite um einen tiefen, ovalen Tisch; auf der anderen Seite stand eine Harfe und mehrere Lauten lagen auf einer Bank. Wir setzten uns an den Tisch, bald darauf brachte ein Page schweren Rotwein, dessen Geschmack ich selbst im Moment des Schreibens noch einmal fühle, als wäre er eben erst meine Kehle hinabgeronnen. Der Sohn des Gastgebers, der ganz vorzüglich zu echauffieren verstand und den jungen Damen bald neckende, bald lobende Komplimente machte, erhob sich.
»So sitzen wir nun hier, zusammengetroffen zum geistreichen Gespräche, und am heutigen Tage will ich den Anfang machen. Die Geschichte, die ich erzähle, hörte ich von einem Kaufmann, dessen Sohn mit dem Mann unterwegs war, um den es hier gehen soll: Ein Wanderer wurde eines Tages von einer Bande Kobolde verschleppt, die sich einen Spaß daraus machten, mit ihm zu spielen. Sie fesselten ihn an einen Pfahl und stellten ihn vor die folgende Aufgabe:
Der Gefangene sollte sich zwischen zwei Tränken entscheiden. Einer enthielt reines Wasser, der andere jedoch war versetzt mit Gift, dass ihn unweigerlich töten würde. Drei Kobolde stellten sich ihm zur Verfügung, um ihm bei der Aufgabe behilflich zu sein. Einer von ihnen sollte stets die Wahrheit sagen, einer würde immer Lügen und der dritte war von wankelmütigem Charakter. Zwei Fragen durfte der Mann stellen, um den ungefährlichen Trank zu finden und so die Freiheit zu erlangen. Nun sei es an euch, dies Rätsel zu lösen.«
Fordernd blickte der junge Adelige in die Runde, und auf einigen Gesichtern war deutlich zu sehen, dass die Herrschaften angestrengt überlegten. So saßen sie einige Zeit wortlos beisammen, bis sich eine junge Dame plötzlich erhob. Sie errötete, nannte die korrekte Lösung und trat dann vor, um nun ihr Rätsel an die Gruppe zu stellen. Es war nur ein kurzer Reim.
»Die meisten Menschen wenden sich ab vor Graus,
da sie sonst mein Feuer verzehrt.
Wie eine Schlange sehe ich aus,
doch bin ich mit Flügeln und Krallen bewährt.«
Der Sohn des Gastgebers erhob sich, lächelte charmant und lobte die Dame für ihre perfekte Artikulation. Gleichzeitig erwähnte er, dass sie natürlich nicht das Geringste mit dem gesuchten Wesen gemeinsam habe, worauf sie aufs Höchste errötete. Dann nannte er die Lösung und half ihr aus der Misere, indem er sie aufforderte, die Audienz gleich noch einmal mit ihrer liebreizenden Stimme zu beglücken.
»Ich berühre dein Gesicht,
bin Sprache, die man von sich gibt,
in der Wand, ist sie nicht dicht,
von den Vögeln werde ich geliebt.«
Diesmal wusste eine ältere Dame, was das gesuchte Wort sei und durfte nun ihrerseits ein Rätsel stellen. Sie überlegte sehr lange, doch dann kam ihr mit Blick auf die Weingläser eine Idee, und sie begann zu sprechen.
»Wisst ihr, liebe Freunde, vor einiger Zeit war ich auf einem Abend, ganz ähnlich wie hier. Dort stellte ein Fürst seine Freunde während des Abendessens vor eine knifflige Aufgabe. Er erhob sich von seinem Sitz, dass alle ihn sehen konnten und sprach: "Erhabene Gäste, ich habe hier zwei Gläser. Eines ist gefüllt mit erlesenem Rotwein, das andere beinhaltet nicht minder guten Weißwein." Dann nahm er einen Löffel in die Hand und sprach weiter: "Ich nehme nun einen Löffel des Roten und gebe ihn zu dem Weißen hinzu. Sorgt euch nicht wegen dieser Untat, schließlich werde ich diese Tränke zu mir nehmen, solltet ihr dem Rätsel auf die Schliche kommen. Nun nehme ich einen Löffel aus dem Weißen und gebe ihn zu dem Roten. Also meine Freunde, sagt mir nun: Ist mehr Rotwein im Weißwein, oder mehr Weißwein im Rotwein?"«
Die Frauen sahen sie bewundernd an, wie sie als Dame aus gutem Hause dieses hochwissenschaftliche Experiment zur Sprache bringen konnte; die Herren dagegen versuchten sich – zuerst alleine und später in Gruppen – an einer Überlegung mithilfe der Logik. Als sie endlich des Rätsels Lösung fanden – es dauerte eine ganze Weile – da sprach der Gastgeber der Fragenden seine Hochachtung aus und forderte sie auf, noch ein Rätsel zu stellen, da bei diesem ja wohl kein eindeutiger Sieger festzustellen sei. Sie stimmte zum und wieder hallte ihre für eine Frau schwere, tiefe Stimme von den Wänden wieder.
»Ein Metall, von Zwergen sehr geschätzt, das als Rüstung den Krieger schützt oder als Waffe die Feinde verletzt, und dabei weiß und silbern blitzt.«
Sire Eclesbury, früherer Kommandant der Dunladanischen Armee, sprang augenblicklich auf die Beine und und nannte das Metall; wobei seine Stiefelsohlen so laut zusammenschlugen, als hätte er sie aus eben diesem Material anfertigen lassen. Nun war die Reihe an ihm, und wie nicht anders zu erwarten, stellte er eines dieser langweiligen Rätsel, welche wir Frauen wohl nie verstehen werden. Der Vollständigkeit halber soll es trotzdem hier aufgeführt werden.
»Am Ende eines Jeder-gegen-Jeden Turniers mit nur einer Runde in der Arena zu Vardensand ergab sich die folgende Reihenfolge:
- Der Mensch
- Die Halbelfe
- Der Zwerg
- Der Elf
- Die Gnomin
Die Halbelfe war dabei die einzige ohne Niederlage und die Gnomin leider diejenige, die keinen einzigen Sieg erringen konnte. Ein Sieg brachte einen Punkt, ein Unentschieden einen halben und eine Niederlage keinen Punkt. Wer kämpfte wie gegen wen, wenn alle Teilnehmer unterschiedliche Punktzahlen erreicht haben?«
Es war eine mühselige Rechenarbeit, nach der sich der Hausherr erhob, um nun ein eigenes Rätsel zum Besten zu geben. Nebenbei erwähnt besitzt er einen erstaunlichen Fundus an interessanten Reimen, von denen er allerdings nur einen relativ leicht zu lösenden aussuchte.
»Um ein seltsames Wesen soll es gehen, das Menschen und nicht Tiere beißt; am Tage wurde es nie gesehen, so sagt mir doch, wie es nun heißt.«
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und prompt folgte die nächste Sentenz von seiner Gattin:
»Der Sylaphar' Element suche ich nicht, doch kann es ohne nicht sein, in dunkelster Nacht verbreitet es Licht, auf dem Duellplatz wird es zur Pein.«
Die ältere Dame antwortete und führte dann ihre Geschichte von dem Abend fort, den sie mit dem heutigen verglich. Bei ihren Worten glaubte ich, gesehen zu haben, wie der Gastgeber sich auf die Lippen biss.
»Noch am selben Abend, bei einer vergnüglichen Gesprächsrunde, rief der Fürst einen Bediensteten mit einem Tablett herbei. Der Fürst nahm es entgegen und stellte es auf den großen Tisch in ihrer Mitte. Sogleich scharten sich seine Freunde um ihn. Voller Vorfreude begann er zu sprechen. "Hier seht ihr drei Schalen, die sich bis ins kleinste Detail ähneln. Außerdem habe ich sechs Kugeln, drei schwarze und drei weiße. Ich lege nun zwei weiße zusammen in eine Schale, ebenso zwei schwarze. Die letzten beiden – gemischt natürlich – lege ich ebenfalls zusammen in die dritte Schale. Nun verdecke ich sie. Auf die Schale mit den weißen Kugeln ein weißes Tuch, auf die Schale mit den schwarzen Kugeln ein schwarzes und auf letztere ein gestreiftes." Gespannt harrten die Männer und Frauen der Dinge und warteten auf das Rätsel, das ihnen ihr Freund nun stellen wollte. "Verschließt nun eure Augen, während ich die Abdecktücher vertausche." Die Gäste taten wie ihnen geheißen. "Nun zieht einer von euch aus einer beliebigen Schale eine einzige Kugel, ohne sich dabei die zweite anzusehen. Weiter müsst ihr mir dann verraten können, welche Kugeln sich in welcher Schale befinden."«
Diese ältere Frau wurde mir immer sympathischer. Es war keine Rechenaufgabe; weder zu schwer, noch zu leicht, und die Geschichte dazu war gut. Ich beschloss, die Sache zu lösen, um nun meinerseits aufzustehen.
»Geehrte Freunde. Es ist mir wie immer eine Freude, im erlauchten Kreise unseres Herzogs zu weilen, und so will auch ich meinen Teil tun, diesen Abend aufs Vortrefflichste zu gestalten. So lauscht nun meinem kurzen Reim, den ich mir zurechtgelegt habe:
Kannst du trotz Kraft nicht weitergehen hilft ein sanfter Druck von mir, ratlos würdest du in den Hallen stehen wäre ich nicht als Freund bei dir.«
Es war so leicht, wenn man die Lösung kannte, doch auf den Gesichtern sah ich fassungsloses Erstaunen. Und was mich noch mehr überraschte: Auch nach einigen Augenblicken, da die Herren ihren Damen eine gewisse Zeit gegeben hatten, um ihnen aus Höflichkeit den Vortritt zu lassen, meldete sich niemand. Doch es selbst zu lösen war nicht meine Art, und so ließ ich die Angelegenheit im Raum stehen, wie sie war, um eine leichtere – und zugleich meine liebste – Sentenz zu zitieren.
»Ich laufe stiller als jeder Reim, fallen kann ich doch klettern nicht, ich bewege mich beim kleinsten Stein, und trage doch das größte Gewicht.«
Diese wurde nun aber nach einer Weile gelöst und so gingen wir dann – es musste die letzte Stunde des alten Tages sein – zu Bett. Einmal mehr war es ein Abend voll interessanter Gespräche gewesen, und auch wenn der Herzog sichtlich älter wurde, so war es mir doch jedes Mal wieder eine Ehre, diesem Wettstreit in den Künsten der Rhetorik beizuwohnen.