Bericht vom Gipfel der Nacht
Gipfel der Nacht ist der Name einer Felsnadel im Wald von Crisana. Er ist Pilgerort der Neuen Ordnung, und man sagt ihm nach, dass Gläubige die Stimmen der Götter dort besonders deutlich vernehmen.
Was ist Macht? Der Kämpfer wurde sagen, dass sie aus Stärke und Konstitution besteht, der Dieb spräche von Geschicklichkeit und Schnelligkeit, und der Magier von Intelligenz und Willenskraft. Doch für den Gläubigen ist sie mehr als das, sie ist die Stärke des Geistes. Sie ist eng mit der Magie verknüpft und befähigt den Jünger eines Gottes, Dinge zu vollbringen, die jeglicher Logik und allen Weltengesetzen widersprechen.
Doch auch diese Art der Macht, ich nenne sie mentale Stärke, ist nicht unerschöpflich. Sie regeneriert zwar langsam wieder, doch wenn man seine natürlichen Kräfte überstrapaziert und die fehlende Energie dazu aus dieser mentalen Stärke nimmt, dann benötigt auch sie eine Erholung. In eben dieser Situation war ich nach der Ausbildung meiner Schülerin; ihre Vision von Enzociar und der damit verbundene Kampf hatten mich mehr Kraft gekostet, als ich es mir anfangs eingestehen wollte. So machte ich mich auf die Suche nach einem Ort, an dem die Stimmen der Götter klar und deutlich klingen. Auf einem der zahlreichen Streifzüge durch die westlichen Provinzen lief ich mit meiner Schülerin und Freundin durch den Wald von Crisana. Es ging fortwährend bergan, bis sich das Gehölz plötzlich lichtete und einen Felsen freigab, der wie ein Zahn in den mittäglichen Himmel ragte. Hinauf zog sich ein schmaler Pfad von Stufen, die direkt in den Stein gehauen waren. Dichter Nebel umhüllte die Spitze und verbarg, wie hoch es eigentlich hinaufging.
Neugierig ob dieser Überraschung, erklomm ich den Gipfel und fand mich auf einem kleinen Felsplateau wieder, das am Rand von zinnenartigen Spitzen umgeben war. Was für ein Platz – wie eine Burg ragte der Fels in den Himmel, und noch dazu dieser schwarze Nebel rundum. Wahrlich ein gesegneter Ort! Wenn es in dieser Gegend einen Platz gäbe, um den Göttern nah zu sein, so war ich mir sicher, mich direkt in seinem Zentrum zu befinden.
Für den Rest des Tages gingen die Herbstweide und ich auf die Jagd. Werwölfe sind in jener Gegend keine Seltenheit, und als Untote würde man sie sicherlich nicht vermissen. Wir erlegten eine ganze Reihe davon, wobei ich zu meiner Schmach zugeben muss, dass meine Klinge an jenem Nachmittag kaum Blut kosten durfte. Wir schleppten die erschlagenenen Leiber zum Fuße des Berges, schichteten trockenes Holz darauf und setzten den ganzen Haufen in Brand. Im süßlich-faulen Geruch kletterte ich erneut die Felsnadel empor und begann zu beten.
Mehrere Stunden dauerte die Meditation an, in der sich nicht nur der schwarze Nebel, sondern auch der Rauch des Feuers um die Bergkuppe zusammenzog. Eingehüllt im geistraubenden Dampf schickten die Götter mich auf eine Reise. Ich erinnere mich an Bilder, an Töne und Gefühle, an Farben und Formen. Stimmen, die meinen Geist einlullten. Musik, die meine Sinne treiben ließ. Als ich zurückkehrte, fühlte ich mich müde und gekräftigt zugleich. Ähnlich dem Gefühl nach einem langen Schlaf, doch viel intensiver.
So kann ich diesen Ort nur empfehlen für jene, die über ihre Kräfte gewirtschaftet haben und Erholung suchen. Er liegt im Zentrum Crisanas, etwas westlich der großen Reichsstraße. Bei gutem Wetter ist die Felsnadel von der Straße aus sichtbar, wie ganz Crisana ist der Weg nicht allzu gefährlich. Wer fest im Glauben an Syrthans Fünfe steht, wird diese Reise nicht bereuen.
Azura Debonaire, Bibliothekarin der Neuen Ordnung